Brasilienprojekt des „Eine-Welt-Laden St. Wendel“
Womit es einmal begann / Erinnerungen von Wolfgang Schulz
Vorgeschichte
Es begann Ende der 70er. Mein Interesse an Brasilien wurde geweckt durch die Erzählung meines Großvaters über Verwandtschaft in Brasilien, ein älteres Ehepaar lebte im Norden Brasiliens in der Nähe von Recife. Neugierig nahm ich Kontakt auf. Eine freudige Einladung wurde ein paar Monate leider wieder zurückgezogen, nachdem ich schon begonnen hatte, mich mit Land und Leuten und portugiesischer Sprache zu beschäftigen. Eine Alternativ-Adresse fand ich kurzfristig durch die Pfarrersfrau meiner Braunschweiger Kirchengemeinde. Ihre Freundin, verwitwet, lebte mit ihren 3 Kindern in Süd-Brasilien im Bundesstaat Rio Grande do Sul in Felix, einem kleinen Ort ca. 50 km nordwestlich von Novo Hamburgo.
Und dort konnte ich nun zu meiner großen Freude quasi spontan unterkommen, auf „deutscher Kolonie“, wie man so sagte. Tägliche Umgangssprache war hier deutsch mit ausgeprägtem saarländischem Dialekt. Ohne zu wissen, dass ich 4 Jahre später ins Saarland ziehen sollte, wurde mir hier das saarländische erstmalig vertraut.
6 Wochen waren nun eingeplant für meinen Brasilienaufenthalt. 4 Wochen davon waren gefüllt einerseits mit dem Kennenlernen des „Kolonie-Alltaglebens“ in den benachbarten kleinen Kirchengemeinden, andererseits mit Reisen durch das riesige Land, über Foz do Iguaçu bis hoch nach Rio de Janeiro. Die letzten beiden Wochen konnte ich die Arbeit des Patenonkels der Tochter meiner Gastfamilie kennenlernen, und das war dann:
Pastor Sebaldo Nörnberg,
der Gründer der ABEFI bzw. heutigen Ação Encontro. Am Rande der Favela von Novo Hamburgo lernte ich seine Ideen, seine Ziele, seine Träume kennen: Er hatte als evangelischer Gemeindepastor täglich die Situation der stadtrandüblichen Armenviertel, der Favelas vor Augen, sah die Trostlosigkeit, hohe Kriminalität aufgrund der Perspektivlosigkeit der dort mehr schlecht als recht lebenden Menschen, Familien mit ihren Kindern ohne planbare lebenswerte Zukunft.
Seine Ende der 60er begonnene Arbeit mit Unterstützung seiner Kirchengemeinde basierte auf dem Grundgedanken: Gib den Menschen keine Fische damit sie satt werden, sondern lehre sie das Fischen. Also die Anleitung der Hilfe zur Selbsthilfe war seine Philosophie. Nach und nach wurden seine Ideen konkret:
Die Menschen der Favelas hatten meist kein Handwerk erlernt. So rief Sebaldo die „escola da fabrica“ (man würde hier sagen: Berufsschule) ins Leben. Es begann mit dem Erlernen der Lederverarbeitung (Schuhindustrie war hier im Süden bereits etabliert, so dass man auf gespendete Lederreste und für die Verarbeitung notwendigen Materialien zurückgreifen konnte). Es folgten Kurse, um die Verarbeitung von Wolle zu Decken und Ponchos sowie das Nähen zu erlernen, auch um die entstandenen Produkte zu verkaufen. In einer Schreinerei wurde Holzverarbeitung gelehrt, so dass man auch Möbel für Schule und Kindergarten herstellen konnte.
Damit Väter oder Mütter ein Handwerk erlernen konnten, mussten natürlich ihre Kinder untergebracht werden. Also ging die Erwachsenenbildung einher mit dem Angebot von Crêche (Kindertagesstätte) und Schule. Hier gab es dann für die Kinder geregeltes Essen, oft die einzige warme Mahlzeit am Tag. Weiterhin konnte Sebaldo Ärzte dazu bewegen, einmal wöchentlich eine Sprechstunde bzw. medizinische Versorgung anzubieten.
Daneben gab es Gesprächskreise, Informationsangebote für Erwachsene und Kinder, um ihnen immer wieder die Wichtigkeit des Lernens, einer geregelten Arbeit, einer gesunden Ernährung, also die Grundlagen eines geordneten Lebens vor Augen zu führen. Die Menschen der Favela sollten erkennen und verstehen, dass dieses der einzige Weg ist, um aus ihrer Verarmung herauszukommen – das war Sebaldo´s Ziel.
Ende der 70er kam ein Kinderheim in Padilha, ca. 70 km entfernt, zum Projekt der ABEFI hinzu.
Für misshandelte oder missbrauchte Kinder und Jugendliche sollte hier ein neues Zuhause mit geregeltem Schulalltag entstehen. Hier auf dem Lande gehörte auch dazu, Grundlagen für Gemüse- und Obstanbau sowie Viehzucht den Jugendlichen zu vermitteln und damit kostensparende Selbstversorgung zu organisieren.
Die täglichen Herausforderungen bei all diesen Aktivitäten habe ich 2 Wochen miterleben dürfen, konnte in Schulklassen ein wenig von mir und Deutschland erzählen, mit den Kindern Fußball spielen, Essen verteilen, Padilha kennenlernen. Ein Bild bleibt mir vor Augen: Beim täglichen morgendlichen Chimarrao-Trinken kamen lachende Schul- und Kindergartenkinder an Sebaldo´s Fenster vorbei: Ein fröhlicher Gruß, ein kurzes Gespräch, ein glückliches Winken waren jene Zeichen und Eindrücke, die deutlich machten, dass Sebaldo das Herz der Kinder gefunden hat und für viele Familien eine bessere Zukunft begonnen hat.
Und es war bei Sebaldo in allen Gesprächen und Überlegungen immer herauszuhören:
Es ging um den Dienst an den Benachteiligten, Behinderten, Ausgestoßenen der Gesellschaft, um ihre aktuelle Notsituation (wie man heute sagt) nachhaltig zu verbessern und eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen. Und nicht nur das Reden darüber, sondern das zugehörige Handeln war ihm und seinem Team wichtig, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen aufzubauen.
Schlußgedanken:
Mit diesen Eindrücken bin ich nach Deutschland zurückgekehrt, tief beeindruckt und geprägt von dem Erlebten. In meiner damaligen Braunschweiger Gemeinde konnte ich Jugendgruppen dafür begeistern, über mehrere Jahre Kontakt zu den dortigen Schulklassen zu halten und die Kirchengemeinde und Jugendliche für die dortige Lebenssituation am Rande der Favelas zu sensibilisieren.
Mit dem beruflich bedingten Umzug 1984 hier nach St. Wendel blieb der Kontakt zu Sebaldo viele Jahre bestehen. Auf seinen Deutschlandreisen hat er Kirchengemeinden und Organisationen besucht, die seine Projekte seit Jahren unterstützten (bei Organisationen, so wird bis heute mit gewissem Stolz berichtet, ist die Kindernothilfe zu erwähnen. Sie hat über viele Jahre das Projekt unterstützt, was außergewöhnlich ist und nur bei besonders vertrauenswürdigen Projekten Praxis ist). Uns in St. Wendel hat Sebaldo besucht, war am Paterhof, um sich Kuh- und Schweinezucht anzugucken, um auch hier Ideen zu sammeln hinsichtlich landwirtschaftlicher Selbstversorgung und Möglichkeiten der Wiederverwertung von Abfallstoffen. Immer voller Enthusiasmus, das Gesehene in seinen Projekten umzusetzen. So entstand schließlich der Kontakt zu Jan Eckhoff, der Anfang der 90er Jahre Pfarrer in St. Wendel war. Ihm ist der bis heute bestehende Kontakt zwischen St. Wendel und Novo Hamburgo und die kontinuierliche Unterstützung des Ação Encontro zu verdanken.